Ist der Weg wirklich das Ziel?!

Absperrung oder Wendepunkt?


Jeder Schritt schmerzt. Ich röchele, will unbedingt noch den letzten Läufer vor mir überholen. Der Rennsprecher befeuert den bevorstehenden Zweikampf auf der Zielgeraden. Die Menge tobt und genießt diesen emotionalen Ehrgeiz der Kontrahenten. Das Duell entscheide ich für mich, der Geschlagene gibt mir im Vorbeigehen einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Als meine brennende Lunge sich erholt hat, blicke ich um mich und suche etwas. Ich weiß nicht was. In meinem bis dato wichtigsten Lauf, einem Halbmarathon am Bodensee, suche ich nach einem Gefühl der tiefen Befriedigung. Es will sich nicht einstellen. Stattdessen kauere ich gedankenversunken auf einer Brunnentreppe samt alkoholfreiem Bier aus dem Pappbecher. Ich gehe tiefer in mich. Um mich herum finden angeregte, gelöste Gespräche statt. Mir gehen viele Gedanken durch den Kopf: Warum ist dieser Lauf schon vorbei?! War es das etwa schon?! Ist das der Lohn der akribischen und fordernden Vorbereitung?!

Soeben hat Mario Götze im WM-Finale von 2014 das Siegtor erzielt. Als sich die Jubeltraube langsam auflöst und der Jungstar wieder von den TV-Kameras eingefangen wird, reden Phillip Lahm und André Schürrle auf ihn ein. Schürrle packt ihn an den Haaren und schüttelt ihn recht kräftig durch, als wolle er ihn wachrütteln und ihn zum Jubeln animieren. Götzes Blick ist wie versteinert, emotionslos. Er wirkt leer. Er hat die Fassung - und jegliche Spannung verloren. Man fühlt, dass es ihm völlig surreal vorkommen muss. Der bemitleidenswerte junge Mann ist erst 22 Jahre alt und hat schon jetzt den absoluten Höhepunkt seiner bilderbuchhaften Senkrechtstarter-Karriere erreicht. Das Siegtor in einem WM-Finale ist das Szenario, das jedes kleine Kind auf dem Bolzplatz bis zum Exzess durchgespielt hat. Bei ihm ist es zur bittersüßen Realität geworden. Es gibt für ihn in diesem Leben keinerlei Möglichkeiten mehr, dieses Ereignis jemals zu toppen. Er steht auf einer Stufe wie Helmut Rahn, Gerd Müller und Andy Brehme. Nationalhelden, gefeiert, verehrt für ihre Verdienste für die Republik. Wir kennen die weitere Entwicklung im Fall Götze. Er spielt seit dieser verflixten 113. Minute von Rio de Janeiro mit Rucksack. Dessen Inhalt ist tonnenschwer. All die bleiernen Erwartungen derjenigen, die das WM-Finale gesehen haben. Weltweit waren dies über eine Milliarde Zuschauer vor den Fernsehgeräten. Die Last auf ihm ist unmenschlich. Er fühlt sich zu wenig wertgeschätzt bei Bayern München, wechselt zu seinem harmonischen Wohnzimmerverein nach Dortmund. Auch dort bekommt er kein Bein mehr auf den Boden, hat immer wieder mit Gelenkbeschwerden, Übergewicht und seinem Stammplatz auf der Bank zu kämpfen. Später stellt sich eine Stoffwechselerkrankung heraus. Götze zieht sich längere Zeit komplett aus der Öffentlichkeit zurück. Seine Wahrnehmung sagt ihm, er könne nur noch verlieren.

Ziemlich ähnlich ergeht es dem Waliser Gareth Bale. In Diensten von Real Madrid erzielt er im Champions-League-Finale 2018 gegen den FC Liverpool das Tor seines Lebens. Es überstrahlt alles bisher Dagewesene im wichtigsten Spiel auf Vereinsebene. Fallrückziehertore sind im Fußball das Nonplusultra. Es gibt keine schönere Art und Weise, als den Ball im Fallen, mit dem Rücken zum Tor in den Maschen zu versenken. Es ist das höchste der Gefühle. Dieses Kunststück im wichtigsten Spiel zu vollbringen, sprengt jede Skala. Danach beginnt auch für Bale die Talfahrt seiner Karriere, er wird von Trainer Zidane immer weniger berücksichtigt und bekennt öffentlich, den Verein verlassen zu wollen. Selbst den Fans ist ihr einstiger Finalheld auf einmal nicht mehr gut genug und sie pfeifen ihn gnadenlos aus. Sie erwarten in jedem Spiel eine solche Leistung.

Der ehemalige deutsche Skispringer Sven Hannawald baute sich damals selbst ein Denkmal. Er war der erste Sportler, der alle vier Springen der Vierschanzentournee gewinnen konnte. Irgendwann später war er total ausgebrannt, konnte keine Höchstleistungen mehr liefern, fiel in das tiefe Loch der Depression und beendete schließlich seine Karriere.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass Menschen die ihre Lebensträume, Visionen und herbeigesehnten Momente der Unsterblichkeit erleben, plötzlich total verduzt sind und sich eine oft unangenehme Grundsatzfrage stellen: WAR DAS WIRKLICH ALLES?

Man muss gar nicht so sehr in die Welt der Stars und Hochleistungsmaschinen abdriften. In unserem Alltag gibt es zu Hauf vergleichbare Situationen.

Als ich mein Abitur bestanden habe, wusste ich nicht so richtig wie ich damit umgehen sollte. Einerseits spürte ich diesen Stolz, die Freude etwas geschafft zu haben. Andererseits war da dieses Vakuum in mir. Der selbst erzeugte und von Lehrern aufgebaute Druck war urplötzlich verschwunden. Es gab keine Aufgabe, keine Prüfung oder Herausforderung mehr vor der Brust. Ich kam mir ziemlich aufgeschmissen und sogar überflüssig vor. Man hat zwar auf einmal unbegrenzte Freiheit und Zeit, aber man weiß gar nichts damit anzufangen.

Bei meiner praktischen Fahrprüfung sieht es ähnlich aus. Ich bin so aufgeregt. Weiß nicht, ob mir heiß ist oder ich friere. Noch bevor ich ins Auto steige bin ich klatschnass und zittere wie ein Puderzuckerstreuer. Die Prüfer unterhalten sich so angeregt, ich kann schwer einschätzen, ob sie aufpassen und meine Fehler überhaupt bemerken würden. Nach etwa zwanzig Minuten ist der Spuk vorbei. Der Prüfer gratuliert und quält gleich den Nächsten. Für diese Lappalie habe ich massenweise Stunden pauken und derart viele Mäuse lockermachen müssen? Vom Stress und der Aufregung ganz zu schweigen. War das alles?

Warum stellen sich vor allem Männer in der Mitte ihres Lebens auf einmal die Sinnfrage? Für die meisten gab es bis dahin nur eine Richtung. Steil bergauf. Studium, Heirat, Hausbau, Beförderung, 1. Kind, Abteilungsleiter, Karibikurlaub, Büroumzug in den obersten Stock, 2. Kind, Haus abbezahlt, Weltreise…. Alles ist so eng getaktet. Man nimmt sich keine Zeit es sacken zu lassen. Mal Revue passieren lassen. Das Hamsterrad des Erfolgs dreht sich immer schneller. Die Ziele im Zehnjahresplan wurden alle erreicht. Nein übertroffen. Alles abgehakt, mit Schleifchen versehen. Eines morgens wacht man auf. Da ist sie diese Frage, die einen aus den Latschen haut. Sie lässt einen nicht mehr los. All die schönen Gefühle, den Status, die Anerkennung, die man sich damals in der Geburtsstunde der Vision vorgestellt hat, sie sind nicht in diesem Übermaß gegenwärtig. Alles läuft wie in einem Film vor dem inneren Auge ab. Wiegen all die Rekorde, Auszeichnungen, Titel und Lorbeeren die familiären Entbehrungen auf? Was wenn die Tochter auf einmal fragt: „Papa (oder Mama), wo warst du damals?“

Warum weinen Frauen an ihren Hochzeiten oder manche nach dem ersten Mal? Dies sind die schönsten Momente, auf die frau das ganze Leben hingefiebert hat. Plötzlich sind sie da und extrem schnell vorbei.

Habt ihr euch schon einmal die Frage gestellt, warum das Buch immer besser ist, als der entsprechende Kinofilm? Weil wir unsere Fantasie in 120 Minuten Blockbuster null fordern. Im Gegensatz dazu aber 6 Wochen lang jeden Abend häppchenweise auf zehn Seiten Spannung freuen können.

Warum fühlt sich der erste Kuss nach drei Wochen Beziehung so viel intensiver an, wie zehn völlig belang-und bedingungslose Onenightstands?

Warum werden Pilger auf den letzten Kilometern vor Santiago de Compostela immer langsamer? Keiner will, dass die Reise enden wird. Man will den letzten Schritt nicht gehen, weil dann die Route zu Ende und das Ziel erreicht ist.

Jeder kennt den Spruch. „Der Weg ist das Ziel.“ Dieses Lebensmotto vieler Menschen beinhaltet so viel Wahrheit, dass es fast schmerzt. Wenn das Ziel also nicht bedeutet, die Ziellinie zu durchqueren, was ist es dann?

Es sind die Mühen, die Maloche, der Einsatz, die Opferbereitschaft, die Sackgassen, Zwischenziele und Niederlagen. Es ist der Moment, wenn du auf der Tartanbahn sitzt und dich fragst: „Warum tue ich mir das an?!“ Es sind die brennenden Beine nach Bergintervallen, es ist der Glaube an sich selbst vor der persönlichen Bestleistung. Es sind all die Brandmahle auf unserer Haut, die Prismenschliffe auf unseren Lebensdiamanten. Es ist der widerstandsfähigere Körper, das sich weiterentwickelte Mindset. Es ist das Bewusstsein und die Gewissheit, Grenzen immer weiter ausdehnen zu können. Es ist die Erfahrung, dass Niederlagen einen immer ein Stück hungriger und stärker machen werden. Der Weg und die Erfahrungen auf dem Weg entpuppen sich später, als das eigentliche Ziel, den eigentlichen Erfolg heraus. Der Weg ist im Vergleich zum relativ kurzen, süßen Moment der Ziellerreichung um einiges länger und steiniger. Die eigene Weiterentwicklung und Prägungen unterwegs sind die größten Gewinne eines jeden Weges.
Das Ziel ist zwar eine Bestätigung für alles, aber es stellt nicht das Ende dar. Es ist nur eine Etappe. Kaum ein Ironman Teilnehmer fängt direkt mit Ironman an. Wenn der Marathon nicht mehr reicht, stecken sich viele immer höhere Ziele. Sie haben unterwegs oft schon den Moment der endlichen Zielerreichung gefühlt und wollen diese Leere stetig wieder ausfüllen.

Es geht in diesem Leben nicht ums Ankommen. Die Veränderung, Optimierung oder Flexibilität sind unsere wichtigsten Werkzeuge. Es geht darum immer offen, neugierig für die vielfältigen Herausforderungen zu sein. Magdalena Neuner hat beispielsweise ihre Biathlon-Karriere mit 24 Jahren beendet. Sie hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Warum also nicht gleich die Zeit für neue Herausforderungen nutzen?!?

Als die Bergsteigerlegende Reinhold Messner gefragt wurde, wie er sich 1978 nach der Erstbesteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff gefühlt habe, antwortete er: „Ich war am Gipfel angekommen, doch ich spürte eine unheimliche Leere.“ Er wollte schnell wieder herunter vom Berg und alle anderen Achttausender erobern. Er hat sich neue Ziele gesetzt und sich nie auf seinen Errungenschaften oder Rekorden ausgeruht. Für ihn war selbst sein größter Erfolg eine Zwischenstation auf seinem Weg. Er war immer hungrig und als er alle Berge durchhatte, wurden Arktis und Wüsten ins Visier genommen und durchquert. Meistens muss man bekannte Pfade verlassen, um weiter zu wachsen. Er ist oft gescheitert. Doch für ihn war die Spitze jedes Berges nur ein Wendepunkt, der die Karten wieder neu gemischt hat.

Das Leben hat sonderbare Gesetzmäßigkeiten. Doch wenn wir verstehen, dass alles ein Geschenk ist und unser Bewusstsein eher auf den Weg legen und ihn genauso genießen, wie das schlussendlich erreichte Ziel, werden wir uns unterwegs immer besser kennenlernen. Der Weg eines jeden Pilgers, ist der Weg zu sich selbst und er wird auch nach einer beendeten Pilgerreise niemals enden.

Jedes Mal, wenn wir etwas zum ersten Mal schaffen, was in seiner Einzigartigkeit nicht mehr zu toppen ist, stirbt ein kleiner Teil in uns. Dennoch eröffnet sich dabei ein viel größerer Teil für unsere gewaltigen Potenziale, neues Wachstum, frische Motivation und unseren immer tiefer werdenden Glauben an uns selbst.

Ich wünsche uns allen diese Erfahrungen und Siege auf unserem kostbaren Weg!

Euer Footprinter 😉

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was wir von Kindern lernen dürfen

Sabbatical Week - Tag 2

Sabbatical Week - Ein Selbstversuch