Sabbatical Week - Tag 1


Die Jahreszeit spielt keine Rolle - wenn wir bei uns sind

Tag 1 


Nach einer herrlichen Nacht wache ich eine Viertelstunde vor dem Wecker auf. Es ist 7:15 Uhr. Sonst bin ich um diese Zeit schon voll auf Temperatur. Ich nehme mir bewusst vor, mir Zeit zu geben und lassen.

Nach dem Frühstück stelle ich folgende Regeln für den weiteren Wochenverlauf auf:
  • Mobile Daten bleiben täglich bis 20 Uhr aus.
  • Es gibt kein TV und keine Musik diese Woche.
  • Zeitung und sonstige Magazine fallen diese Woche aus.
  • Ich versuche meinen Alltag (z.B. duschen, essen) diese Woche bewusster zu gestalten. 
  • Es gibt keinen Anlass für Stress.
  • Ich vermeide es auf die Uhr zu schauen. 
  • Um 21:30 Uhr ist Zapfenstreich.

Da ich nach dem Aufstehen sonst geführte Meditationen über Youtube mache, muss ich ohne WLAN improvisieren. Zum Glück habe ich mir vor einiger Zeit englische Meditationen auf Spotify heruntergeladen. Diese will ich ausprobieren. Ich bin skeptisch, ob ich auf englisch in einen Entspannungszustand kommen werde. Doch es funktioniert sogar sehr gut.

Ich bin voller Vorfreude, was der heutige Tag bringen wird. Training auf dem Plan. Draußen ist es ungemütlich und trist. Es nieselt leicht. Ich werde nach Meersburg und wieder retour laufen. Das entspricht ziemlich genau fünfzehn Kilometern. Eine Menge Zeit zum Nachdenken. Ohne Kopfhörer.

Das Experiment


Die Strecke verläuft topfeben immer am Ufer des Sees entlang. Nach etwa 50 Metern kommt mir die Idee einer Challenge. Ich möchte heute jedem menschlichen Wesen ein fröhliches „Guten Morgen“ wünschen. Da ich diese Woche sowieso sehr wenig sprechen werde, kommt mir eine solche Gelegenheit gerade recht. Nicht, dass sich meine Stimmbänder noch zurückentwickeln. Ich spreche etwa 50 Menschen an und bin über die unterschiedlichen Reaktionen erstaunt.

Bei diesem Experiment lassen sich schließlich drei Personengruppen herauskristallisieren.


Gruppe 1: sind spazierende Paare oder Radfahrer jenseits der Midlife Crisis. Meistens von sportlicher Statur. Mit Funktionswäsche und Trekkingklamotten, vereinzelt mit Nordic Walking Stöcken. Jenen scheint das Wetter wenig auszumachen, sie sind auf alles vorbereitet. Sogar auf mich. Diese Personengruppe freut sich jedes Mal, wenn ich grüße. Oder sie grüßen mich schon, bevor ich das tun kann.

Gruppe 2: sind Personen, wie ich früher. Meist übergewichtig und eher lethargisch. Viele versuchen meinem Blick auszuweichen. Einige erschrecken gar angesprochen zu werden, andere drehen sich demonstrativ weg. Diese Personengruppe scheint mir gegenüber nicht sehr offen gestimmt zu sein und grüßt selten von sich aus.

Gruppe 3 besteht aus einer Person. Einer älteren Dame mit Rollator und Sauerstoffgerät. Sie ist total entzückt und jubelt mir hinterher.

Ich frage mich. Warum haben die Personen auf ihre Art und Weise auf mich reagiert?

Bei Gruppe 1 ist es mir völlig klar. Als Läufer bin ich eine Art Verbündeter dieser Gruppe. Denn wer in diesem Alter noch schlank ist, scheint relativ aktiv gewesen in seinem bisherigen Leben. Diese Personengruppe freut sich, dass ich in jungem Alter Sport treibe. Sogar bei ungemütlichen Witterungsbedingungen.
Fazit: Gruppe 1 kann und macht es auch.

Für Gruppe 2 bin ich eher die "3. Mahnung" oder ein laufendes „Vorfahrt achten! – Schild“. „Wieso muss der Jogger so fröhlich sein? Verdammt, wir haben schon Februar. Ich habe meine guten Vorsätze total vernachlässigt.“ Diese oder andere Gedanken gehen wohl in deren Köpfen vor. Sie möchten sich derzeit mit dem Thema Aktivität nicht auseinandersetzen. Sie vermeiden eine Konfrontation mit mir.
Fazit: Gruppe 2 kann, aber möchte nicht.

Die glückliche ältere Dame freut sich für mich. Sie gönnt mir meine Freude an Bewegung. Sie erinnert sich bestimmt an ihre jungen Jahre zurück. 
Fazit: Gruppe 3 kann offensichtlich nicht mehr, zeigt aber ihre Begeisterung.

Wintersaison



same place

different story

Zum ersten Mal besuche ich den Bodensee im Winter. Ich bin verblüfft wie anders er sich in dieser Jahreszeit präsentiert. Die Hotels und Ferienwohnungen stehen leer. Es bieten sich paradiesische Parkmöglichkeiten. Man kann in Ruhe laufen, ohne von einem Bienenschwarm Radfahrer fast niedergewalzt zu werden. Keine Touristenbusse, deren Insassen ganz Meersburg überschwemmen. Die Bänke an den Promenaden sind vereinzelt abgeschraubt. Dolce Vita? Fehlanzeige. Die Stühle der unzähligen Straßencafés sind fest angekettet. Das Flair des Südens, welches die Gegend hier bestimmt, fehlt gänzlich. Die Möwen scheinen die saisonale Flaute zu kennen. Ich bekomme keine einzige zu Gesicht.

Was mir besonders auffällt ist der Schiffverkehr. Er ist auf ein Mindestmaß reduziert. Nur der Pendlerverkehr nach Konstanz wird gewährleistet. Unzählige Segelboote und Yachten liegen im Hafen.

Schönwetter-Segler?


Standby-Modus

Ich entdecke eine Parallele zu unserem Leben. Im Sommer des Lebens ist die Sonne uns über Monate wohlgesonnen. Sie lockt uns auf den aufregenden See. Jeden Morgen fahren wir raus und laufen abends in den Heimathafen ein. Wenn Erfolge und Anerkennung uns umschmeicheln starten wir täglich unser Boot. Wir fahren weit hinaus aufs ruhige Wasser. Lassen uns treiben. Baden sprichwörtlich in unseren Errungenschaften. 

Doch wie ist es im frostigen Winter unseres Daseins? Trauen wir uns auch dann, wenn wir großen Herausforderungen gegenüberstehen? Wenn die Windböen uns die raue Realität ins Gesicht peitschen? Wenn Tiefschläge unser Boot des Lebens zum Kentern bringen wollen?

Plane schützt vor Stillstand nicht

Unser Leben kann manchmal wie ein Wintertag am See sein. Unsere Boote liegen aufgebockt auf Pflöcken voller Ausreden und Hemmungen im sicheren Hafen. Wir warten eine ganze Saison darauf, dass man uns endlich wieder in unser Element freilässt. Andere sind auf einem Autoanhänger festgezurrt. Gründlich mit Plane abgedeckt. Sie werden an Land hin und hergefahren, ohne selbst das Steuer zu übernehmen.

Schnellboot mal ziemlich langsam

Dem Verwendungszweck eines Segelbootes wird das jedenfalls in keinster Weise gerecht.
Auf dem Wasser angekommen. Werden die unangenehmen Bojen des Lebens geschickt umschifft oder mit jeder Menge Abstand vom Ufer aus beäugt. Öfter mal gleiten wir nicht mit dem Wind. Wir holen die Segel ein und schmeißen unseren starken Yamaha-Bordmotor an. Dann brettern wir mit hoher Drehzahl und massivem Benzinverbrauch gewaltsam gegen den Wind. Wir wundern uns, wenn uns mitten auf dem See der Sprit ausgeht. Wir plötzlich auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Unsere Ressourcen werden gnadenlos für falsche Ziele verheizt. Wir werfen unsere Netze an den falschen Plätzen aus. Kehren mit leeren Händen zurück. Wenn wir jedoch mit dem Wind unseres Herzens und unserer persönlichen Leidenschaft segeln. Wenn wir unser Ding machen. Egal was man auf anderen Booten von uns denkt. Dann können wir nur die richtigen Häfen ansteuern und unterwegs unheimlich kostbare Begegnungen sammeln.

Ruheraum, bitte nicht sprechen!

Unterwegs sehe ich ein Ehepaar, welches mit überdimensionalen Sporttaschen die örtliche Therme betritt. Ich liebe Sauna. Meiner Erfahrung nach geht man dort der Entspannung wegen hin. Man zieht die Straßenklamotten aus und den Bademantel an. Anschließend setzt man sich in einen Aufguss, schwitzt sich die Seele aus dem Leib und macht vor dem nächsten Aufguss eine Pause. Dazu stehen Restaurants oder Ruheräume bereit. Soweit so gut. Man benötigt für einen Saunaaufenthalt also nur seinen nackten Körper und ein Saunatuch, richtig? Doch was wird nicht alles aus solch prallen Sporttaschen hervorgezaubert?! Ohrstöpsel werden ausgepackt, ein Tablet, ein Kindle, das Smartphone sowieso. Die Tasche beitet spielend Platz für Gala oder Sportbild. Für die Herren der Schöpfung. Wir beschäftigen uns durchweg - auch in unseren Ruhephasen. Somit wird jeder Entspannungscharakter zerstört. Aus einem Ruheraum ganz schnell ein Unruheraum. Die Frau denkt im nächsten Aufguss, warum ihre Libido in der Menopause so stark vermindert ist. Der Mann regt sich beim Schwitzen über die astronomischen Spielergehälter in der Bundesliga auf. Da Körper, Geist und Seele jederzeit untrennbar zusammenhängen, wird so keine Tiefenentspannung erreicht.

Ein Spaziergang zum Landungssteg bei Wind und Starkregen rundet meinen erfüllten Tag ab. Der See ist tiefschwarz und unruhig. Die Wellen peitschen an die Stegpfeiler und ich habe Mühe das Gleichgewicht zu halten. Es wurde eine Sturmwarnung rausgegeben. Im ganzen Dreiländereck blitzen synchron orangene Signalleuchten auf.

footprinter-Erkenntnis des Tages:

Schon nach einem Tag bemerke ich: Ich brauche relativ wenig, um glücklich zu sein. Auch keinen Partner. Dieses Gefühl der inneren Zufriedenheit kann mir selbst meine Partnerin nicht schenken. Ich darf es in meinem Leben ganz persönlich erforschen. Ich stelle ebenso fest, dass mein Geist umso klarer wird, je weniger Reizen ich ausgesetzt bin. Mein Fokus auf mich selbst ist definitiv gewachsen. Ich bin konzentrierter denn je. Meine Gedanken sind heute Autorennen gefahren, ohne extrem abgelenkt zu werden. Meine innere Kompassnadel ist nicht durch andere Schwingungen beeinflusst. Sie spendet mir enorme Ruhe und Gelassenheit. Der Drang der ständigen Verfügbarkeit, dem minütlichen Checken des Handydisplays ist so kaum mehr vorhanden. So fühlt sich also ein Tag an, wenn die innere Stimme nicht mit der Lautlostaste weggedrückt wird.

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